Neue Publikation: Verantwortung in digitalen Kulturen – Anonymität im Internet

Vor kurzem ist der Sammelband zur Tagung “Verantwortung in digitalen Kulturen – Privatheit im Geflecht von Medien, Recht und Gesellschaft” erschienen. Dazu haben Hans-Christian Gräfe und Andrea Hamm beigetragen. Thema des Beitrages sind gängige Annahmen über Anonymität im Internet und mögliche Rückschlüsse auf Freiheit und Verantwortung bei der Ausgestaltung von Kommunikationsräumen.


Verantwortung in digitalen Kulturen –
Privatheit im Geflecht von Medien, Recht und Gesellschaft

Die zunehmende Komplexität vernetzter Systeme weckt grundsätzlich Zweifel an der Selbstbestimmtheit im Digitalen. Fremdbestimmende Algorithmen und Praktiken der Selbst- und Fremdverdatung werfen Fragen nach Schutz und Gefährdung von Autonomie und Meinungsfreiheit auf. Gleichwohl bleibt die rechtliche, politische, ethische, soziale und ökonomische Verantwortlichkeit für die Folgen digitaler Transformationsprozesse für Gesellschaften, Kollektive und Individuen noch ungeklärt. In diesem Spannungsfeld möchte der interdisziplinäre Band eine Diskussion zu Verantwortungen und Folgenabschätzungen anregen. Es werden Problemlagen innerhalb digitaler Kulturen eruiert, mögliche Steuerungsmöglichkeit- en besprochen und Konflikte von ökonomischen, politischen und sozialen Systemen diskutiert. Die zugrundeliegende Tagung fand im Mai 2019 an der Universität Passau statt: Verantwortung in digitalen Kulturen, Tagung des DFG-Graduiertenkollegs „Privatheit und Digitalisierung“.

Anonymität im Internet –
Rückschlüsse aus Kommunikations- und Rechtswissenschaft

Die Frage, ob Anonymität ein Wert an sich ist oder nicht, ist im Allgemeinen zu kurz gegriffen. Vielmehr ist Anonymität in einigen Fällen die Voraussetzung für wertvolle und schützenswerte Mechanismen von demokratischen Prozessen in Gesellschaften. Gleichzeitig kann sie in anderen Fällen zu unsozialen oder gar kriminellen Handlungen führen. Somit bildet Anonymität eine Voraussetzung für ein Verhalten, welches tendenziell
entgegengerichtet zu bestehenden sozialen Normen sein kann. Je nach Kontext kann es sich förderlich oder missgünstig auf gesellschaftliches Handeln auswirken (z. B. Schutz journalistischer Quellen, Enttabuisie- rungskampagnen, Schwarzmärkte). Es besteht ein großer zusammenhängender grundrechtlicher Schutzbereich für Anonymität, der sich aus gewichtigen und zum Teil überlappenden Grundrechtspositionen ergibt. Anonymität ist ein zentraler Bestandteil des liberalen Verfassungsstaates, um grundrechtliche Freiheiten zu gewährleisten und demokratische Legitimation zu sichern. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass Anonymität absolut geschützt wäre. Technologischer Fortschritt führt ständig dazu, die (rechtlichen) Grenzen von Anonymität neu bestimmen zu müssen. Heutzutage besteht ein großes Bedürfnis, die horizontale Anonymität der Offlinewelt in die digitale Lebenswelt zu übertragen bzw. das bestehende Konzept relativer Anonymität nicht auszuhöhlen. Eine Aufteilung der Welt in Online und Offline erscheint dabei generell als überholt. Vielmehr ergibt sich aus der spezifischen Lebenssituation der zu betrachtende Fall aus spezieller Kommunikationsform und -umgebung. An der jeweiligen Schutzbedürftigkeit muss dann auch das Schutzniveau bemessen werden, welches für Grundrechtsausübungen von vorneherein bestehen muss.

Beim interdisziplinären Diskurs hat man sich dabei vor Augen zu führen, dass ein jeweils unterschiedliches Verständnis von Anonymität besteht. Die Möglichkeit und Fähigkeit zur Distanznahme, zur Bildung und Wahrung von Kommunikationsbarrieren, ist dabei das Wesentliche der Anonymität. Die Schwierigkeit ist aber, dass durch die technisch bedingte, allgemeine Reduzierung von Online-Anonymität die einzelnen Fälle nicht mehr in ihrem jeweiligen Kontext bewertet, sondern alle Nutzenden grundsätzlich identifizierbarer werden. Demokratieförderliche Prozesse, welche Anonymität voraussetzen, geraten in Gefahr, wenngleich ungeklärt ist, ob kriminelle oder terroristische Aktivitäten tatsächlich durch die eingeschränkte Anonymität reduziert werden können.

  • Aus der Grundrechtslage folgt eine staatliche Schutzpflicht zur Aufrechterhaltung relativer Anonymität – im doppelten Wortsinn: Relativ in Abgrenzung zu absolut, als auch relativ im Sinne von horizontaler, also privatrechtlicher Beziehung.
  • Daneben müssen die Rechtsprechung und Strafverfolgung befähigt werden, die bestehenden Instrumente besser nutzen zu können.
  • Gegen unsoziales Verhalten im Online-Diskurs können folgende Maßnahmen helfen, die umgesetzt werden können, ohne die Online-Anonymität generell einzuschränken: „(1) Community Management und Moderation, (2) das Ausüben von Gegenrede, (3) die Produktion und Distribution von Gegenbotschaften sowie (4) die Förderung von Medienkompetenz“.

Zusammenfassend gilt: Wenn Demokratien bei komplexen Problemstellungen vorschnell gegen Anonymität im Netz vorgehen, offerieren sie damit oft eine zu einfache Antwort auf verschiedene komplizierte Fragen.